Back Down to Earth


[Buchrezension] Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry - Rachel Joyce

Harold wurde innerlich ganz klar und durchsichtig; sein Körper schien sich aufzulösen. Regen begann auf das Dach und gegen die Plane zu tropfen, aber es war ein weiches, geduldiges Geräusch, das ihn daran erinnerte, wie Maureen des kleinen David in den Schlaf gesungen hatte. Als der Regen verstummte, vermisste er ihn wie einen alten Bekannten. Er hatte das Gefühl, es gäbe nun nichts mehr von Gewicht, was ihn von Himmel und Erde trennte.

Inhalt:
Harold Fry will nur kurz einen Brief an seine im Sterben liegende frühere Kollegin und Freundin Queenie Hennessy einwerfen. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei, ebenso am Postamt und an jeder weiteren Einwurfstelle, aus der Stadt hinaus und immer weiter. 87 Tage, 1009 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle.

Buchaufmachung:
Die auf den ersten Blick sehr schlicht und fast schon langweilig wirkende Gestaltung hat einen eindeutigen Bezug zum Werk und ist daher wirklich schön gelungen. Denn so einfach die Aufmachung, so einfach auch Harols Ausstattung auf seiner Reise. Das sandfarbene Gelb in Verbindung mit den Segelschuhen, die im Roman auftauchen, wirken jedenfalls auf mich sehr gelungen.

Meine Meinung:
Eine Geschichte über einen Rentner, der versucht, eine alte Freundin vor dem Tod zu bewahren, in dem er sich zu Fuß auf den Weg zu ihr macht - kann das etwas für mich sein? Ich gebe zu, ich war skeptisch. Und wurde kurz darauf überrascht von einem Werk mit viel emotionaler Tiefe und Poesie, das einen noch lange darüber nachdenken lässt.

Rachel Joyce überzeugt von Anfang an mit einem wunderschönen, sanften und trotz der Nachdenklichkeit gut zu verstehenden Schreibstil. Hier wird man gefangen in den Worten, die nur so zu fließen scheinen und einen mitnehmen auf Harolds lange Reise nicht nur zu sich selbst, sondern auch zurück zu seiner Familie. Erzählt wird das Ganze aus der 3. Person Präteritum, meist aus der Sicht des Mannes selbst. Zwischendurch allerdings gibt es Einschübe, in denen seine Frau erzählt, wodurch beide Seiten gleichermaßen beleuchtet werden.

Harold hatte eine lieblose Kindheit, war unerwünscht und demnach überflüssig. Seine Haltung war schon immer gebeugt und das hat sich auch in seiner Ehe mit der schönen Maureen nicht geändert. Er hat sich nie getraut, seine eigene Meinung zu haben oder etwas zu tun, was nicht erwartet wurde. Er hat sich nicht einmal getraut, seinen eigenen Sohn anzufassen, aus Angst vor dem Versagen. Maureen war immer die Stärkere der beiden, jedenfalls im Umgang mit Worten. Oft sagt sie etwas, was sie gar nicht so meint und treibt damit einen Keil zwischen sich und die Menschen. Beide versuchen immer wieder, über ihren Schatten zu springen, doch das ist ein langer Weg. Sie machen eine glaubwürdige Entwicklung durch, die man als Leser gern verfolgt.

Auf seiner Pilgerreise begegnet Harold vielen Menschen - Menschen, die ihm ihre Geschichten erzählen, Menschen, die sich ihm manchmal anschließen. Da ist das Mädchen von der Tankstelle, das ihm von ihrer krebskranken Tante erzählt und damit alles ins Rollen bringt, da ist die Krankenschwester Martina, die ihm einen Unterschlupf bietet und ihn gesund pflegt. Da ist Wilf, der Erste, der gemeinsam mit Harold pilgern möchte und doch nicht gegen seine Natur ankommt. Und da ist Richard, der sich beweisen will und dabei alles an sich reißt. All diese Menschen sind unterschiedlich und auch dann wunderbar charakterisiert, wenn sie nur kurz auftreten. Die gesamte Zeit über da ist Rex, der Nachbar der Frys, der sich im Laufe der Handlung als echter Freund herausstellt und den ich sehr schnell ins Herz schloss.

Dass es wichtig ist, miteinander zu reden und sich nicht so voneinander abzukapseln, wird nicht nur Harold Fry bald klar, sondern auch dem Leser. Immer wieder erinnert er sich an Dinge aus der Vergangenheit: Warum er keinen Alkohol trinkt, weshalb seine Beziehung zu seinem Sohn zerbrochen ist  und wann die zu seiner Frau. All diese kleinen Szenen, und seien sie noch so kurz, ergeben gemeinsam ein Bild, das man irgendwie erahnt, aber dennoch nicht erwartet hat. Dabei geht Rachel Joyce so subtil und gleichzeitig so gewaltig vor, dass es einen unweigerlich treffen muss. Ich war mitgerissen erlebte den gesamten Marsch, als würde ich ihn mitlaufen.

Allerdings muss ich doch sagen, dass mich das Ganze zwischenzeitlich arg an "Forrest Gump" erinnert hat. Auch dieser läuft irgendwann eine lange, lange Zeit, auch ihm folgen einige Menschen, auch über ihn wird in Zeitung und Fernsehen berichtet. Natürlich, der Grund-Plot und die Figuren sind grundsätzlich verschieden, aber die Gemeinsamkeiten ließen mich doch das ein oder andere Mal stutzen. Dennoch hatte ich eine riesige Freude an dem Werk und fühlte mich fast ein wenig allein am Schluss. Doch dieser ist so schön, so passend, dass ich gar nicht anders kann, als immer noch zufrieden zu lächeln.

Fazit:
"Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" wird auch für den Leser zu einer Reise. Ich fühlte mich Harold sehr verbunden und erlebte seine Emotionen und seine Erinnerungen die gesamte Zeit über mit. Rachel Joyce' Schreibstil ist wunderschön und mitreißend, sodass es ein unvergessliches Erlebnis wird. Einzig die Ähnlichkeit zu "Forrest Gump" störte mich, daher nicht die volle Punktzahl. Aber eine volle Empfehlung!


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Mein Dank dem Verlag für die wunderbare Aktion und das Buch!
http://fischerverlage.de

  3 Kommentare:

  1. Coole Rezi und diese coole Tapete, die dein Hintergrund ist! Epic! ;)

    GlG Elle

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  2. Das ist eine schöne Rezension. Die Ähnlichkeit zu "Forrest Gump" habe ich schon erahnt, als ich vom Inhalt hörte. Die Geschichte klingt dennoch sehr schön. Nur ist mir in letzter Zeit irgendwie nicht nach solchen Geschichten. Auf der Wunschliste habe ich es dennoch, für andere Zeiten.

    Liebe Grüße, Diti

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  3. @Elle:
    Danke für das Kompliment zur Rezension und zur "Tapete" - freut mich, dass sie dir gefällt :D

    @Diti:
    Ja, das war bei mir von Anfang an auch so. Aber das ist hier ja nicht schlecht und auch nicht großartig abkupfernd geworden. Eher so, als würde man hier Forrests Reise miterleben ;)
    Wenn dir mal der Sinn nach so etwas steht, ist da sicherlich die richtige Anschaffung!

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Die Bloggerin

Kittyzer, 22 Jahre alt, früher als Sonne bekannt. Gebürtige Niedersachsin, die für die Arbeit nach Rheinland-Pfalz gezogen ist. Schreibt über Bücher, Filme, Serien und Mainz. Um mehr zu erfahren, → klicke hier

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